Die drei Arten des Bewusstseins: Die Essenz

In den vorherigen Teilen dieser Reihe haben wir das Bewusstsein kennengelernt, das durch die „Familienseele“ kreiert wird (Link hier), und weiter auch das Stammes-Bewusstsein (Link hier). Grob gesagt ist ersteres ich-orientiert, das letztere zielt dann auf das „wir“ – seine Hauptaufgabe liegt darin, eine feste, realitätsnahe, ressourcenorientierte Basis für die Expansion des „Stammes“ zu schaffen, ganz im Sinne von Jesus, der zu Petrus spricht: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen...“ (Mt. 16:18). Manchen erscheint diese Beschreibung der Stammesseele zu negativ, zu konfliktorientiert, doch sollten wir dabei bedenken, dass jede Art der Expansion, der Selbstbehauptung und der Erhaltung des „eigenen Spezies“ notwendigerweise mit einem Kampf verbunden ist; dies ist vollkommen natürlich und im Einklang mit dem Universum.

Auf den Jahreszyklus projiziert, entspricht die Phase der Stammesseele dem sich entfaltenden Sommer – sie ist verbunden mit Wachstum und Reifung, mit Sonne und Wärme und im übertragenen Sinne auch mit Erfolg, Sieg und der Sicherung des Erreichten. Bereits an dieser Aufzählung einiger Attribute merken wir, dass die nächste Phase – falls wir nicht eines unnatürlichen Todes mitten im Aufblühen sterben sollten (zum Beispiel durch ein Blitzschlag) – notwendigerweise mit einer Katharsis verbunden ist. Und tatsächlich müssen wir, bevor wir das Stadium der Essentiellen Seele erreichen, durch eine tiefe Läuterung hindurchgehen. In unserer Kultur nennen wir es die „Midlifecrisis“.

In früheren Kulturen war die Zeit nach der Kindheit und dem Erwachsensein, nach dem produktiven Alter den „alten Weisen“ vorbehalten, die in der Gesellschaft hoch angesehen waren. Sie hatten nichts mehr zu verlieren, und deshalb waren sie frei, nicht gebunden an die Konventionen und Gebote des Stammes*. Genau das war die Eigenschaft, die sie in die Lage versetzte, die Stammes-Angelegenheiten zu regeln und zu richten. Eine andere Gruppe der „Nicht-Gebundenen“ waren die Schamanen und die spirituellen Lehrer, die Meister, die auch außerhalb der Stammes-Zwänge standen. Doch der Eintritt in diese Essenz des Seins, der Gang in die Tiefe der eigenen Seele, war immer verbunden mit Opfer und Verzicht auf die schützende und auch nährende Zugehörigkeit zu „den Unsrigen“ – sei es zur Familie, sei es zum Stamm.

Den Reiz des tiefen Verständnisses der Zusammenhänge, das Locken der spirituellen Verbundenheit mit dem All oder dem Göttlichen spüren auch heute viele. Die Weisheit und die Befreiung von Ängsten und Zwängen lockt auch heute viele Menschen an – oder vielleicht gerade jetzt, in der Gegenwart, die von Moden und Massenbewegungen, vom Zwang zum Angepasst-Sein beherrscht zu sein scheint. Doch nur wenige wagen die Opferung der eigenen Sicherheit, den Verzicht auf das Erreichte, sei es in Form des Besitzes, der gesellschaftlichen Stellung oder der Aufgabe der akkumulierten Macht. Und deshalb kommt es heute zur Deformation des Essentiellen – es wird mit dem Individuellen verwechselt. Die hyper-individualistische, atomisierte Gesellschaft ist die Folge.

Es scheint mir deshalb wichtig, zwischen dem individuellen und dem essentiellen Bewusstsein zu unterscheiden. Das erstere ist eine Form der Rückkehr zu dem ich-betonten, kindlichen Bewusstsein, welches typisch für die erste Phase der Entwicklung ist – für die Familienseele. Es führt zu Infantilisierung der Gesellschaft, zum Zerfall der Werte und auch und nicht zuletzt zur Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der notwendigen Abwehr des „Stammes“ nach außen. Es ist, als ob viele um die fünfzig herum von dem Abgrund, der überwunden werden will, erschrecken und sich entweder in die Hochburg des Materiellen flüchten, zum Gefühl der eigener Macht, oder einen weiteren Frühling erleben wollen – den zweiten Beltane, ersten Mai, verbunden mit einer romantischen Verliebtheit. Dies passiert oft den erfolgreichen Männer, die um diese Zeit eine junge Geliebte finden, mit der sie eventuell eine zweite Familie zu gründen erwägen. All das ist freilich nur der Versuch, eine „zweite Runde“ auf einer schon bekannten Laufstrecke zu drehen.

Das Bewusstsein, das sich an dem Essentiellen orientiert, geht jedoch immer durch das tiefe Tal der Transformation. In meinen Seminaren nenne ich es die „Orpheus-Reise“, die oft durch eine persönliche Krise beginnt. Das kann der Tod eines geliebten Menschen sein, eine Trennung vom Lebenspartner oder auch eine ernsthafte Erkrankung. Aus der gewohnten Bahn hinausgeworfen zieht es nun den Suchenden in die Unterwelt, in die Tiefe. Dort, an der Essenz seiner Seele angekommen, wird man mit der eigenen Nichtigkeit konfrontiert, lernt seinen Schatten kennen, der immer ein Teil der ganzen Persönlichkeit ist, und kann geläutert und tief verändert auf die Erde zurückkehren. Von dieser Transformation durch den Abstieg in das Reich der Toten erzählen viele alten Mythen**.

Der dritte Abschnitt der zyklischen Entwicklung, die Essentielle Seele, die auch eine entsprechende Art des Bewusstseins kreiert, orientiert sich also weder auf das „ich“, noch dient sie dem „wir“, sondern hat die Aufgabe, eine Verbindung zum Ganzen herzustellen. Hier spüren wir, dass wir ein Teil der Natur sind, wir fühlen die Verbundenheit mit jeder Pflanze, jedem Tier, wir sind im Kontakt mit der Landschaft, in welcher wir leben, und mit den Sternen über uns. Da wir den Tod kennengelernt haben, wissen wir, dass er lediglich eine Pforte ist, genauso wie die Geburt. Und wir akzeptieren und bejahen den ewigen Zyklus des Werdens und Vergehens. Auch wird es hier klar, dass alle vorherigen Entwicklungsstadien in uns sind, dass wir sie nicht „überwunden haben“, sondern in uns integriert - etwa in gleicher Weise, wie ein wachsender Baum seine früheren Formen in sich als die Baumringe bewahrt.

Meiner Überzeugung nach steht unsere „globale Welt“ in der Gegenwart auf der Schwelle zu eben dieser dritten Art des Bewusstseins. Große Teile der Welt, praktisch alle Staaten, Kirchen, Konzerne und Korporationen, stecken noch tief im „Stammes-Bewusstsein“, im Konkurrenzdenken zwischen „wir“ und „die anderen“ fest. Doch immer mehr Menschen wird klar, dass dies zur Vernichtung unseres Lebensraumes führt, denn die immer mächtigeren Technologien ermöglichen uns (bzw. den verfeindeten Gruppen) ein Maß an Zerstörung, das in der Geschichte der Erde bisher beispiellos ist. Hinter vielen gegenwärtigen Konflikten können wir den Streit dieser beiden Bewusstseins-Arten entdecken: Des „ich-wir“ Bewusstseins und des wirklich globalen, nicht nur globalisierten Bewusstseins, das nicht vordergründig auf die Selbsterhaltung, sondern auf die Erhaltung des Lebens in seinem gesamten Spektrum abzielt. Wie dieser Streit am Ende ausgeht, wird die nicht allzu ferne Zukunft zeigen.

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* Doch gerade diese Freiheit hat ihnen ermöglicht, nicht gegen die Stammes-Sitten und Konventionen zu rebellieren. So waren sie mit einem Bein (freiwillig) an die Stammesordnung gebunden, mit dem anderen standen sie außerhalb derselben. Deshalb auch befanden sich die Hütten der Schamanen an der Grenze des Dorfes (bzw. der Zivilisation) zur Wildnis.
** Der Abstieg der Inanna in die Unterwelt, der Mythos vom Tod und Auferstehung Osiris, viele der griechischen Mythen, Odin und sein Hängen auf dem Weltenbaum und natürlich auch die Auferstehung Christi.

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Danke für Ihren Kommentar. Da ich ihn "bewilligen" muss, kann die Veröffentlichung einige Tage dauern. Jan Bily

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